Jubiläumsschrift: 100 Jahre Sichel, 1889-1989
Manfred Schöne: 100 Jahre Sichel, Schriften des Werks-Archivs Henkel, Bd. 25, Düsseldorf 1989
Die Jubiläumsschrift zum 100-jährigen Bestehen der Sichel-Werke behandelt nicht nur die Entwicklung der Sichel-Werke in Limmer, sie gibt auch generell Einblicke in die Kulturgeschichte des Klebens. Außerdem nimmt die Darstellung der Produkt-Vielfalt der Kleber und Bindemittel mit ihren technisch-chemischen Herstellungsverfahren einen breiten Raum ein.
Wussten die alten Griechen noch „alles fließt“, so kann man spätesten ab dem 20. Jahrhundert sagen „alles klebt“. Dabei spielten Klebstoffe schon lange vor der griechischen Antike eine Rolle – in der Natur wie auch bei der Herstellung von Gegenständen durch Menschen. Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Klebens ist vielleicht deshalb so wenig im Bewusstsein, weil man bei der Verbindung von Stoffen den Kleber nicht sieht. Hauptsache es hält. Schlechtesten Falls kann man ihn riechen, aber daran wurde erfolgreich gearbeitet, genau das zu verhindern.
Man muss gar nicht an die Baubranche, die Auto- und Flugzeugindustrie, die Raumfahrt, die Medizintechnik oder die Verpackungsindustrie denken, um sich klar zu machen, welche Bedeutung Bindemittel und Kleber haben. Allein beim Einkauf im Supermarkt lädt man im Jahr bestimmt einige Kilo Klebstoffe mit in den Wagen. Selbst beim Zigarettenrauchen werden Klebstoffe mit inhaliert, jetzt sogar nachhaltig mit 70% biobasierten Schmelzklebstoffen.
Im Haushalt waren in den letzten 100 Jahren für die Menschen zwei Bereiche von herausgehobener Bedeutung. Zum einen brauchte man einen Haushaltskleber, mit dem man schnell und zuverlässig alles zusammenfügen konnte. Dafür gab es – im Falle eines Falles – ab 1932 einen klaren Kunstharz-Kleber, benannt nach einem großen Vogel. Beim zweiten Bereich, dem Tapezieren, ging es um den großflächigen Einsatz von Kleister. Jeder konnte sehen, ob der Leim etwas taugte, spätestens dann, wenn sich schon nach kurzer Zeit die Tapete nach und nach ablöste. Das Verarbeitungsproblem beim Tapezieren beschäftigte lange Zeit nur die Handwerker. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Selbermachen schon aus Kostengründen immer weiter zunahm, konnten die Heimwerker von den bahnbrechenden Entwicklungen der Sichel-Werke beim Tapetenkleister profitieren.
Die Sichel-Werke gehören zu den großen Industriebetrieben, die zwar in der Stadt Hannover gegründet wurden, dann aber nach Linden bzw. Limmer „auswanderten“, um expandieren zu können. Als Gründungsjahr der Sichel-Werke wird immer wieder 1889 angeführt. Bevor aber Ferdinand Sichel in der Gr. Packhofstraße eine chemische Fabrik namens Arabinwerk gründete, hatte es bereits ab 1849 eine Firma Sichel in Hannover gegeben, gegründet von dem Tapezierer Joseph Sichel, dem Vater von Ferdinand. Joseph Sichel war ein erfahrener und in Hannover hoch angesehener Handwerksmeister am Königlichen Hof. Im Adressbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover für 1860 findet sich folgenden Eintrag:
Sichel, Joseph, Tapezierer, Möbelmagazin, Firma: J. Sichel & Co., Calenbergerst. 40.p
Therese und Joseph Sichels Sohn Ferdinand wurde 1859 geboren. Der Umzug der Firma des Vaters in die Gr. Packhofstraße erfolgte 1865. Nach dem Tod von Joseph Sichel (1870) wurde seine Ehefrau Therese Sichel als Eigentümerin angeführt. Im Adreßbuch von 1878 findet man im Einwohnerverzeichnis diesen Eintrag:
Sichel, Möbelfabr., Möb.- u. Spiegelhdl., Inh.: We. Therese Sichel, geb. Meyerhoff, Prok.: Jul. Sichel, gr. Packhofstr. 40.Iu.II
Wer der Prokurist Jul[ius ?] Sichel war, geht aus dem in der Broschüre auf S. 56 abgedruckten Stammbaum nicht hervor.
Ferdinand Sichel kam schon als Kind im väterlichen Betrieb mit dem Tapezierer-Handwerk in Berührung. Wie aus den Adressbüchern zu ersehen ist, gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Hannover und Linden eine ansehnliche Zahl von Tapezierern (Beispiel AdrB 1878, damals noch Tapezirer geschrieben), allerdings waren es in Linden im Verhältnis zu Hannover auffällig wenige. Das Kleben von Papiertapeten war noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein unwesentlicher Teil der Arbeit von Tapezierern, die vor allem mit dem Anbringen anderer Wandbehänge und dem Aufbereiten von (Polster-) Möbeln ihr Geld verdienten. Das änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts, als durch neue Druckmaschinen die industrielle Massenproduktion von Papiertapeten möglich wurde.
Damit rückte ein Problem immer mehr ins Blickfeld. Tapetenleim wurde bis dato aus tierischen Abfallprodukten (Knochen, Häuten, Kadavern) in einem aufwändigen Siedeverfahren zubereitet. Das stank nicht nur erbärmlich. Die Verarbeitung der fertigen Masse musste auch schnell gehen, denn wenn der Leim kalt wurde, war er nicht mehr zu gebrauchen. Der Tapezierer Ferdinand Sichel wollte sich damit nicht abfinden. Er tüftelte so lange, bis er 1888 einen neuen Tapetenkleister auf pflanzlicher Basis erfunden hatte, der sich problemlos verarbeiten ließ und nicht mehr erhitzt werden musste.
Mit dem neuen Sichel-Malerleim M wuchs die Nachfrage in rasantem Tempo, so dass der Umzug aus der Innenstadt nur eine Frage der Zeit war. 1896 wurde der Firmensitz nach Limmer verlegt. Der neue Standort ermöglichte Expansion. Durch einen Bahnanschluss und die Anbindung an den Stichkanal mit eigener Schiffsanlegestelle zur Zeit des Ersten Weltkriegs wurden die Standortbedingungen noch einmal erheblich verbessert. Sichel hatte sich als Erfolgsmarke für Klebstoffe etabliert, nicht nur für Tapetenkleister, sondern mit einer breiten Produktpalette für alle möglichen Materialien.
Das Firmen-Logo griff den Namen des Erfinders Ferdinand Sichel auf: oben eine Sichel mit der Aufschrift „Schutzmarke Sichel“, darunter ein Bogen in Form einer Sichel-Schneide mit dem selbstbewussten Spruch: „Mein Name ist meine Reclame“. Zwar gab es die Sichel in zahlreichen Wappen schon lange vorher, als Firmen-Logo wurde sie zuerst in Limmer eingesetzt. Das Polit-Logo mit einer Sichel und dem gekreuzten Hammer erlangte erst später mit dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat weltweite Beachtung.
(siehe auch Sichel Logo 1925 aus Anzeige für Sichel-Papp Kleber für Schuh-Absätze)
Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte der zweite große Innovationsschub bei der Klebstoffentwicklung mit einer Erfindung von Friedrich Supf. Er entwickelte ein Verfahren, Stärke in kaltem Wasser zum Quellen zu bringen. Damit konnten Stärkeleime und -kleister in Trockenform mit kaltem Wasser verarbeitet werden. Der Chemiker Supf war Inhaber einer chemischen Fabrik in Neubrandenburg, die eng mit den Sichel-Werken kooperierte und später von Sichel übernommen wurde. 1936 machte ihn dann die jüdische Familie Sichel, als diese emigrieren musste, zum Eigentümer der Sichel-Werke.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es erste Geschäftsbeziehungen zu der Düsseldorfer Firma Henkel. Sichel lieferte den Klebstoff für die Verpackungen von Persil. Bei dem enormen Erfolg des neuen Waschmittels war das kein unerheblicher Faktor. In den 1920er-Jahren gestaltete sich die Verbindung zwischen Sichel und Henkel immer problematischer (s. S. 94 ff). Als Folge der Ruhrbesetzung 1923 befürchteten die Düsseldorfer, irgendwann vom Klebstoff-Nachschub abgeschnitten zu werden. Also begannen sie, selbst Kleber zu produzieren. Der Preiskampf mit der Klebstoffabteilung von Henkel führte 1933 zum Bruch zwischen Düsseldorf und Limmer. Allerdings kam man schon 1935 wieder zusammen.
Drei Jahre vor der Machtübernahme der Nazis starb der Firmengründer Ferdinand Sichel. Ab 1933 sah sich die Familie Sichel immer häufiger antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Es wurde öffentlich zum Boykott von Sichel-Produkten aufgerufen. „Wie der Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand … mitteilt, handelt es sich bei der Firma Ferdinand Sichel Kom.-Ges. Hannover-Limmer, welche den bekannten Artikel Sichelleim und Sichelkleister herstellt, um ein rein jüdisches Unternehmen. Die Partei- und Kampfbundmitglieder werden deshalb gebeten, die Erzeugnisse dieser Firma weder zu kaufen, noch zu verwerten.“ (S. 98) Die Antwort der Firma Sichel mit einem Hinweis auf die Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat mit ausschließlich deutschen christlichen Persönlichkeiten und der Verweis auf 350-400 deutsche Arbeiter und Angestellte zeigt die Hilflosigkeit der Angegriffenen.
1936 übernahm Friedrich Supf die Ferdinand-Sichel AG als Eigentümer. Ein Teil der Familie Sichel emigrierte nach England, darunter auch der Schwiegersohn des Gründers und Chefchemiker, Walter Dux, ein anderer Teil der Familie emigrierte nach Sao Paulo und Montevideo.
Das Thema Kriegsproduktion und Zwangsarbeit bei den Sichel-Werken wird in der Schrift nur knapp behandelt. Der Hinweis auf die unbefriedigende Quellenlage wird im Vorwort entschuldigend angeführt: „Denn gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Plünderer große Mengen von Akten und Dokumenten auf dem Fabrikgelände verbrannt.“ (S. 7) Von 1940 bis 1945 waren bei den Sichel-Werken fast 600 Zwangsarbeiter beschäftigt. Zu Kriegsende nach der Befreiung durch die Amerikaner waren es immer noch 200 Männer und Frauen. Es kam zur Betriebsbesetzung, zu Plünderungen und Verwüstungen. (S. 64 ff) „In der ersten Nachkriegszeit bis Anfang der 50er Jahre konnte der Betrieb unter schweren Bedingungen aufrecht erhalten werden. Dabei bewährte sich die gesamte Belegschaft und zeigte für einschränkende Maßnahmen volles Verständnis“, heißt es auf S. 67.
1962 wurden die Sichel-Werke von der Firma Henkel übernommen. Das Produktprogramm wurde seitdem mehrfach verändert. Ab 1979 erfolgte in Limmer eine Spezialisierung auf Fugendichtstoffmassen.
(WE)
Ort: Sichelstraße 1 Personen: Sichel, Joseph; Sichel, Therese geb. Meyerhoff; Sichel, Ferdinand; Dux, Walter; Hagedorn, Otto; Supf, Friedrich; Dettmar, Friedrich; Wilhelm, Oskar; Bollmann, Siegmund; Müller-Born, Adolf; Westphal, Werner; Henkel, Konrad